Dr.
Thomas Seiterich-Kreuzkamp
Der Heilige Padre Pio
und die kompromisslose Modernität
(PUBLIK-FORUM
16/2004, S. 45-47)
Was macht den Zauber
und das Einzigartige der großen hochgotischen Kathedralen
aus? Das Licht- und Raumerlebnis, das zu schaffen den mittelalterlichen
Bauleuten geglückt ist. ... Egal wie hoch und riesig solch
ein über 500 Jahre altes Gotteshaus ist: Es erschlägt
nicht, es macht den Menschen nicht zum Zwerg.
In unserer Gegenwart
ist erneut solch ein Gotteshaus fertiggestellt worden. Ein Kirchenraum
für rund 7500 Gläubige mit einem integrierten Vorplatz
für weitere 30 000. Die neue Kirche steht in San Giovanni
Rotondo, einem 27 000 Bürger zählenden Wallfahrtsstädtchen
im bergigen Gargano. ... Der geistliche Magnet, der jährlich
rund sieben Millionen (in Zahlen 7 000 000) Pilgerinnen und Pilger
nach San Giovanni zieht, ist "Il Santo", der Heilige
Padre Pio.
An diesem eigensinnigen
Kapuzinerpater aus dem kleinbäuerlichen, besitzarmen Süditalien
bissen sich die Vatikanprälaten der Vorkonzilszeit sowie
der hochfahrende Papst Pius XII., der aus römischem Stadtadel
stammte, die Zähne aus. Padre Pio mit der dunkelbraunen Kutte
und den fingerlosen Wollhandschuhen, die er immer trug, war den
hochgelehrten Römern unheimlich: zu vormodern, zu archaisch,
zu wenig gebildet und - zu fromm. Pius XII. tat sich anfangs schwer
mit diesem von den Leuten vereehrten Mönch. Die römische
Kurie verdächtigte den Kapuziner jahrelang als Scharlatan.
Der Pius-Papst hätte das Unerklärliche an Pater Pio
gerne wegerklärt. Aber all solche Schwierigkeiten mit Rom
machten Pio bei den Massen nur noch beliebter. ...
Was dem "Santo"
in den Augen seiner in die Millionen gehenden Verehrerschar Unbesieglichkeit
verleiht: Padre Pio trug die "Stigmata", die Wundmale
des Gekreuzigten, an seinem Leib. Kreisrunde, blutende und zu
Lebzeiten sich nie schließende Wunden an der Brust sowie
an den Händen und Füßen. Pios Anhänger begriffen
sie als miracolo, als Wunder. ... Viele erhoben Pio -
der wenig mehr tat als rund 50 Jahre lang von früh bis spät
die Beichte zu hören und ungezählte reuige Sünder
im Namen des lieben Gottes von ihren Missetaten loszusprechen
und ihnen so die Höllenangst zu nehmen - zu ihrem Messias
des 20. Jahrhunderts. ...
Wie kommt ausgerechnet
der altmodische heilige Padre Pio zu der architektonisch modernsten
Großkirche im 3. Jahrtausend? Das ist eine erzählenswerte
Geschichte.
Renzo Piano ist einer
der berühmtesten Architekten Italiens. Der Genueser ist weltbekannt
für das zeichenhaft Große. Er hat solche Größe
gebaut beim Pariser Centre Pompidou oder beim Debis-Hochhaus
am Potsdamer Platz in Berlin. ... Nun hatte der Star-Architekt
keinerlei Lust auf einen Kicrhenbau in der abgelegenen apulischen
Provinz Foggia. Doch Renzo hatte nicht mit der perseveranza,
der Beharrlichkeit von Padre Gerardo, dem Kirchenbaubeauftragten
von San Giovanni Rotondo gerechnet. Vierzig Tage lang faxte Pater
Gerardo an den berühmten Architekten täglich einen je
wechselnden Gruß- und Segenswunsch sowie den - vom Heiligen
Padre Pio geliebten - immer gleich bleibenden Bibelspruch: "Haltet
durch, dann werdet ihr das wahre Leben gewinnen." Solche
Berharrlichkeit siegte. Im Jahr 1990 begannen die Bauarbeiten.
Im Juli 2004 wurde die Wallfahrtskirche eingeweiht. ...
Der Architekt aus dem
fernen Genua hat keinen himmelsstürmenden Prunk errichtet,
sondern, wie er sagt, "una casa aperta", ein "offenes
Haus" für die "Kirche als wanderndes Gottesvolk",
ganz bewusst - so sagt der Katholik Renzo Piano - "im Sinne
des Zweiten Vatikanischen Konzils". Man kommt nur
zu Fuß - oder im Rollstuhl oder Krankenwagen - zur Wallfahrtskirche.
Wo erwartungsvolle Pilger ein Mirakel erwarten, öffnet sich
weiße Leere .... Auf dem weiten Weg den Vorplatz hinab zu
der von außen geduckt wirkenden Piano-Kirche fällt
der Lärm und das Gewühl der Andenkenhändler von
einem ab. Wer diesen Weg geht, wird dem Trubel, der Hektik entrückt.
Das tut gut. Ist es das, was Jesus wollte, ein Tempel ohne Händler?
...
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