Migration und Seelsorge
Ein
Reisender der Gegenwart,
verliebt in die Sila Greca
Die
Erfahrung des Deutschen Thomas Raiser, die uns über die Aspekte
unseres Landes
nachdenken lässt, mit denen wir uns gewöhnlich wenig befassen.
von
Assunta Scorpiniti, Cariati
Wir
werden immer weniger. Mit großer Intensität ist der migratorische Exodus(= Auswanderung) fortgeschritten, der unsere
Stadt der Energie, der Intelligenz, der Jugend, der nötigen Kräfte
für den Fortschritt Cariatis beraubt. Das immer wiederkehrende Hier gibt es nichts soll uns nicht davon abhalten zu erkennen,
dass es etwas gibt, das die Mühe wert ist, unsere Gegend nicht
zu verlassen.
Machen wir uns also Gedanken, ausgehend
von der Erfahrung eines einzelnen Touristen, der dem Beispiel der großen
Kalabrien-Reisenden und Reiseschriftsteller des 18. und 19. Jahrhunderts
folgt. So wie damals beispielsweise der Engländer Norman Douglas
(Old Calabria) wandert dieser moderne Kundschafter durch Kalabrien,
und es gelingt ihm, die vielfältigen Gesichter unseres Landes einzufangen,
die wir wie aus Gewohnheit schon gar nicht mehr wahrnehmen.
Die
Poesie der Mittagshitze auf dem Land
Thomas Raiser ist ein Deutscher
aus der Gegend um Stuttgart, 47 Jahre alt und Pastoralreferent der Kath.
Kirchengemeinde St. Johannes in Fellbach, zu der viele Emigranten aus
Cariati gehören. Seit ein paar Jahren durchstreift er zu Fuß,
mit dem Ruchsack auf dem Rücken, das Gebiet der Sila Greca. Seine
Gründe, Gefühle und Gedanken erklärt er mit einfachen
Worten:
„Ich habe kapiert, dass die Süditaliener den Orten ihrer
Herkunft, den verwandtschaftlichen Beziehungen und den Traditionen sehr
viel Bedeutung beimessen. Ich habe dies erfahren in meiner Tätigkeit
als Religionslehrer an einer öffentlichen Hauptschule, die von
70 % der italienischen Kinder und Jugendlichen in unserem Ort besucht
wird. Mit vielen ihrer Familien bin ich in regelmäßigem Kontakt.
Von hier ergab sich die seelsorgerliche Dringlichkeit, ihre 'Seele'
kennen zu lernen, ihren Glauben und ihre Kultur zu schätzen, die
Orte ihrer Herkunft zu sehen und ihre Geschichte zu begreifen.
Ein wichtiger
Schritt war, die Spuren der ersten Italiener zu suchen,
die mit der großen Migrationswelle Anfang der Sechzigerjahre nach
Deutschland gewandert sind. Beim Sammeln dieser Daten wurde für
mich offensichtlich, dass von den 2500 italienischen Fellbacher Migranten
mindestens 700 aus Cariati kamen. Allmählich sind Freundschaften
entstanden. So wie mit Cataldo Graziano und Giorgio Ferrari, zwei Künstlern,
die in ihren Werken die Landschaft der Sila Greca wiedergegeben haben,
in die ich mich verliebt habe.“
Dann kam es zur ersten Reise einer Fellbacher Gruppe nach Cariati, zu
einer freundschaftlichen Beziehung zwischen seiner Gemeinde und der
Gemeinde Cristo Re, anlässlich des Festes San Cataldo im Mai 2002.
„Als
ich zum erstenmal die Orte der Sila Greca besuchte, ist mir bewusst
geworden: Ich begegne Menschen, die zwar aus wirtschaftlicher Not emigriert
sind, dafür aber einen großen Reichtum an Glauben und Religiosität
typisch kalabresischer Prägung besitzen.“
Zu dieser Tradition gehört auch die Geschichte der byzantinischen
Spiritualität, die ihn sehr fasziniert.
„Ich bin mehrere Male nach Kalabrien zurückgekehrt -
meist im Zug, weil es mir gefällt, mich langsam einem Ort anzunähern
– und habe mich bewegt auf den Spuren der Mönche in den Grotten,
ihre Wege und die Landschaft wollte ich spüren mit den Füßen,
durch die Kratzer hindurch, die Disteln und Stacheln auf den Beinen
hinterlassen, wollte mich der Hitze des Mittags aussetzen auf dem Land,
die Frische des Waldes genießen, mir mit Quellwasser den Durst
stillen, Brombeeren mit ihrem herben Geschmack kosten ...“
Aber auch um eine wichtige menschliche Erfahrung zu machen.
„Ich habe die Gastfreundlichkeit der Familien, die stillschweigende
Großzügigkeit der Bauern, die Herzlichkeit der Hirten und
der Waldarbeiter erfahren; sie haben mich immer wieder eingeladen mit
ihnen zu essen, über Orte, Klima, Vegetation, Tradition der Arbeit
zu sprechen, eine Gesamtsicht der Dinge, welche für die Einheimischen
oft wenig Gewicht hat. Das sind Dimensionen, die es wieder zu entdecken
gilt: Die Landschaft, die außer ihrer offensichtlichen Schönheit
auch einen Wert besitzt als Ort des Gebets und der Meditation über
wichtige Werte, als Ort der Besinnung auf sich selbst. Ich habe in den
Schriften von Basilius dem Großen gelesen, der in seiner Lebensregel
für die Mönche die Notwendigkeit der Einsamkeit und des Gebet
in den Grotten, aber auch der gemeinsamen Arbeit mit den andern für
den Aufbau einer Gemeinschaft beschreibt."
„Die
Landschaft der Olivenbäume und Felsen lässt einen an den Charakter
der Emigranten denken.“
Unter den begangenen Wegen, für
die Raiser einen Enthusiasmus zeigt, weist Raiser einen besonderes Interesse
auf für die, die er im Herbst 2002 gegangen ist. Von Rossano aus
zur byzantinischen Einsiedelei S. Onofrio, eingebettet in typische mediterrane
„Macchia“, umgeben von Wasserläufen.
„Das war früher die Kirche der Wanderhirten; es hat mir
gut getan, allein zu sein an diesem von Natur umgebenen Ort , so wie
das die Mönche früher erlebt haben.“
Nicht fehlen darf natürlich auch der Weg von S. Maria del Patire
hoch bis zum Waldschutzgebiet Cozzo del Pesco mit seinen gigantischen
Kastanien.
Im Februar 2003 hat er dann den folgenden Weg begangen, von Mirto ausgehend,
durch das Gebiet von Crosia, Caloveto, Pietrapaola, Mandatoriccio und
San Morello.
„Ich habe hier vor allem die Einfachheit der Landschaft bewundert,
die bis 600 m fast nur aus Oliven und Gestein besteht und ein wenig
den großzügigen und zähen, dabei zurückhaltenden
Charakter der Familien wiederspiegelt, die sich in Fellbach niedergelassen
haben. Beim Besuch der Orte gab es verschiedene Eindrücke. Einige,
wie Pietrapaola Centro, sind nahezu entvölkert und hinterlassen
einen Eindruck des Verlassenseins. Ähnlich verhält es sich
mit San Morello (Ortsteil von Scala Coeli). Ich kenne eine junge Frau
in Weinstadt, die mir gesagt hat, es sei wichtig, dass jemand die Geschichte
ihres Herkunftsortes aufschreibt, weil sie das Gefühl hat, dass
er möglicherweise irgendwann aufhört zu bestehen.“
In der ersten Augusthälfte
2003 begann die Tour mit Wanderungen um Cariati herum, dann ging es
weiter Richtung Campana und Bocchigliero, („der Wald von Basilicò ist wirklich ein Ort des Friedens..“) über Paludi bis
nach Rossano.
„Ich habe sehr viele Vogelarten gesehen, ich habe den Geschmack
der Minze verspürt und des wilden Fenchels, der Lakritzpflanze,
die es dort reichlich gibt. Lauter Erfahrungen und Eindrücke, die
ich sehr schätze. Ich meine, dass es sich für die Orte der
Sila Greca / Sila Ionica lohnen würde, ein Netz von Wanderwegen
zu errichten, sei es eines auf den Spuren der Natur, ein gastronomisches,
ein religiöses oder ein kulturell-musikalisches. Es wäre lohnend,
wenn die Kommunen sich Gedanken machen würden, wie ein solches
Netz aussehen könnte, wie man zum Beispiel von Cariati aus zu Fuß
Terravecchia erreichen könnte oder die benachbarten Orte, inklusive
die in der angrenzenden Provinz Crotone.“
Thomas Raiser hat einen eigenen
Beitrag dazu anzubieten: ein Buch, besser, ein Reisehandbuch in deutsch,
mit dem Titel Sila Greca - Sila Ionica (Edition Semplicità 2002)
das wie die Erzählungen der alten großen Reiseschriftsteller,
Daten enthält, Informationen und Erläuterungen über die
begangenen Pfade und Orte wie Bocchigliero, Caloveto, Calopezzati, Terravecchia,
Campana, Cropalati, Mirto Crosia, Mandatoriccio, Longobucco, Paludi,
Pietrapaola, Scala Coeli, Cariati und Rossano.
„Ich möchte diese Orte unter den Deutschen bekannt machen;
das ist mein Beitrag für dieses Land, das ich zuerst durch seine
Menschen kennengelernt habe und erst dann durch die direkte Begegnung
hier.“
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