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Thomas Raiser

Giovanni Ciccopiedi

Schicksal eines
kalabresischen Emigranten
zwischen Cariati und Winnenden

* 9.3.1923
Cariati / Kalabrien

+ 11.7.1966
Winnenden/
Rems-Murr-Kreis

_____________________

italienische Version

 

 

 

 

 

  Durchdringend hallen die Schreie der Frauen durch die mittelalterliche Klosterkirche S. Filomena und über den weiten Friedhof mit seinen marmornen Gräbern und Familiengruften. Zu Tausenden zählt die Menschenmenge, die den 43jährigen Giovanni Ciccopiedi am 18. Juli 1966 bei seinem letzten Weg zur Familiengruft auf dem Friedhof von Cariati begleitet.   Wenige Tage vor dem Fest Allerheiligen im Jahr 2008 ist der Friedhof von Cariati ebenfalls ordentlich belebt. Während auf der Schwäbischen Alb Schnee liegt, richten die Menschen in Cariati bei Sonne und 20 Grad die Gräber, wenn sie nicht gerade bei der Olivenernte sind. Nach einigem Nachfragen findet sich auch bald das „Häuschen“ mit den Verstorbenen der Familie Ciccopiedi mit dem Grab von Giovanni. Der Zufall will es, dass gerade jetzt die Verwandten ebenfalls vorbeikommen. Einer von ihnen, Demetrio Guzzardi, Betreiber eines kleinen Verlags in Cosenza/Kalabrien und Neffe von Giovanni, hatte mich vor einem Jahr gefragt, ob es denn stimmen würde, dass in dem Betrieb, in dem sein Onkel bei dem Unfall ums Leben gekommen war, die Kollegen noch lange Zeit an der Unfallstelle eine Kerze aufgestellt hätten.    
  Wo früher die Firma Nusser ihre Säge hatte, steht heute
das Neubaugebiet "Toscana"
Hier mit Dino Santoro, Antonio Agazio und einem kleinen neuen Bewohner.

 

In der Ausgabe der Winnender Zeitung vom 13. Juli 1966 findet sich eine kleine Notiz:

„Auf der Stelle getötet wurde am vergangenen Montag (11. Juli) gegen 17.05 Uhr in einem Winnender Betrieb ein 43jähriger lediger italienischer Arbeiter. Während des Transports von Gebälk rutschte ein Holzbalken von einem Gabelstapler und erschlug den Arbeiter. Der Tod trat sofort ein.“

 

Wenig später treffe ich Antonio Agazio aus Winnenden, 18 Jahre, im Frühsommer 2008 gerade im Wartestand auf seine Ausbildungsstelle als Kaufmann und deshalb zeitlich gut verfügbar. Mit ihm und mit seinem Opa Dino Santoro besuche ich die Stelle, wo Giovanni ums Leben kam. Dort, wo früher das Sägewerk und die Imprägniereri der Firma Nusser standen, entsteht gerade die „schwäbische Toscana“, spielen Kinder um die bereits bezogenen bunten Häuser. Dino Santoro, Winnender italienisches Urgestein, führt uns auf die Spur von Giuseppe Vallonearanci, ihn treffen wir in seiner gemütlichen kleinen Wohnung in einem alten Häuschen in Hertmannsweiler. Er kommt ins Erzählen.

 

Giuseppe Vallonearanci Originalton:
„Im Juli 1952 bin ich geboren und war noch nicht ganz 17 Jahre, als ich am 6. Mai 1969 bei der Firma Wilhelm Nusser in Winnenden angefangen und bis zum Jahr 2000 dort gearbeitet habe.“
Dann wurde die Firma umstrukturiert, und er musste nicht zuletzt auch aus gesundheitlichen Gründen aufhören.

Von Wilhelm Nusser spricht er mit Respekt und Dankbarkeit. Die 1933 gegründete Wilhelm Nusser GmbH & Co in Winnenden hatte sich anfangs in der Herstellung von qualitativ hochwertigen, langlebigen Garten- und Landschaftsbänken eine führende Marktposition geschaffen. Die Reichsgartenschau 1939 und die Bundesgartenschau 1961 machten die „komfortablen und wertbeständigen“ Nusser-Bänke zu einem Erfolgsprodukt. (Firmengeschichte auf der Homepage der Fa. Nusser)
Giuseppe Vallonearanci führt weiter aus:
Die Firma war in den Sechzigerjahren ein Imperium von zeitweise bis zu 500 Leuten, mit 25 – 35 Lastwagen, die zur Montage ausfuhren nach ganz Deutschand. Bis zu drei Wochen war man unterwegs, um im Bereich Fertigbau Projekte jeder Größenordnung umzusetzen. Heutige Betätigungsfelder der Nusser-Firmengruppe sind die Bereiche Schul- und Kindergartenbau, Wohnbau, Gewerbebau sowie Mobilbau.

   

Nach der Umstrukturierung der Unternehmensgruppe führen heute die beiden Geschwister Susanne und Jörg Wilhelm Nusser den Betrieb mit 15 Mitarbeitern und haben sich auf das ursprüngliche Kerngeschäft des Unternehmens konzentriert, der Herstellung von Bänken.
In den 60er-Jahren waren auf dem damaligen Firmengelände zahlreiche Gabelstapler unterwegs, um das gelagerte Holz zum Zuschnitt und zur Imprägnierung zu fahren. Dabei gab es riesige Stapler, die bis zu 50 Tonnen heben konnten. Die großen Balken für die Zimmerei waren eine Herausforderung. Verrutschten die Balken, bestand Lebensgefahr. Vier tödliche Unfälle gab es im Laufe der Jahre, praktisch immer bei der Verladung und beim Verrutschen großer Holzlasten und im Umfeld der Gabelstapler. Hier arbeitete Giovanni Ciccopiedi auch am 11. Juli 1966.

Dass am Unfallort in der Firma die Kollegen noch lange Zeit eine Kerze entzündet hätten ist wohl Legende. Kollegen konnten das auf Rückfrage nicht bestätigen; im Gegenteil forderten die Sicherheitsbestimmungen, dass jedes Feuer auf dem Betriebsgelände der Holzfirma untersagt war.

Die Firma Holz - Fertigbau Nusser in den 70er Jahren
     
Fa. Nusser: Verwaltungsgebäude oben: Fa Nusser: Sägewerk oben: Giuseppe Vallonearanci zu seinen
besten Zeiten
  Aus Italien erhalte ich ein Foto des Verunglückten. Es ist – wie sich später herausstellt – aus dem Totenbildchen gescannt und zeigt einen vorzeigbaren jungen Mann. Frau Kurz, über viele Jahre im Betrieb Nusser tätig, bemüht sich zwischenzeitlich um Aufnahmen der inzwischen abgerissenen alten Firmengebäude.
Ein Haus innen an der Stadtmauer
von Cariati besaß damals
die Familie Ciccopiedi.
(Foto: http://www.costadeisaraceni.it/)
 
  Im Herbst 2008 geht die Spurensuche weiter in Kalabrien /Süditalien. Demetrio, Neffe und Patenkind von Giovanni Ciccopiedi, weil er, der Tradition folgend, ihm als erster die Fingernägel geschnitten hatte („Wir waren ständig zusammen“), bringt mich zum einzigen noch lebenden Bruder des verunglückten Giovanni, Mario Ciccopiedi, der mit seiner Frau Teresa in Bocchigliero lebt, weiter oben in den Silabergen. Während wir die Fenchelsalami und selbst gesammelte Pilze in Tomatensoße essen, öffnet sich ein anderes Buch, die Geschichte des jungen Giovanni und seiner Familie.
  Am 9. März 1923 wurde Giovanni in Cariati am Ionischen Meer geboren. Nach einem Mädchen war er der erste Sohn von Gelesio und Elisabeta Ciccopiedi, die noch weitere drei Söhne und zwei Töchter bekommen sollten. Die Eltern hatten Erfahrung mit der Auswanderung: Mutter Elisabeta lebte in Amerika, bevor sie ihren Vetter heiratete. Durch die Heirat kamen die Güter beider Teilfamilien zusammen, so dass die Ciccopiedis in Cariati nicht zu den Armen des Ortes gehörten.Von der Piazza Travaglia, wo sie in dem von mittelalterlichen Mauern umgebenen Städtchen Cariati hoch über dem Meer wohnten, war es ordentlich weit zu den Feldern in San Cataldo und in Torretta S. Angelo. Schon früh musste Giovanni als ältester Sohn mithelfen, nachdem er fünf Jahre Schule beendet hatte, ritt er Tag für Tag auf einem der zwei Pferde zu den Feldern und kam erst spät abends wieder. Da war keine Kraft mehr für abendliches Vergnügen, wenn andere mit den Mädchen feiern gingen, ging Giovanni schlafen.    
  Grab von Giovanni Ciccopiedi in Cariati Die Verwandten beschreiben ihn als fleißig, ruhig, von der Statur her ein „robustello“, also kräftig – untersetzt. Bruder Mario erinnert sich an Giovannis großen Appetit: Einmal hätte er alle Vorräte an Wein und Wurst mitgenommen und mit Freuden verprasst. Während sich zwei seiner Brüder zur Infanterie meldeten, die nur 15 Monate dauerte, ging Giovanni für zwei Jahre zur Marine in Taranto. Wie er den Krieg erlebte, ist nicht bekannt, immerhin lebten noch alle Geschwister nach Kriegsende, wenn auch teilweise durch die Kriegserlebnisse traumatisiert.
Giovanni arbeitete weiter daheim beim Vater, da kam es in den 60er Jahren über die Jugendlichen wie ein Sog: „Wir gehen nach Deutschland.“ Dort gab es richtig Arbeit und richtig Geld und schöne Frauen. Dabei ging es der Familie recht gut. Man besaß 200 Schafe und 100 Ziegen, eine Ölmühle, einen Mähdrescher und zwei Metzgereien.
Freunde und Verwandte in Deutschland besorgten Arbeit und Unterkunft, und dann ging es los, zuerst nach Bari, dann wurde in den Zug nach Stuttgart umgestiegen. Mario schlich sich heimlich fort, denn die Eltern waren gegen die Auswanderung, denn ihnen fehlten die Söhne daheim für die Landwirtschaft, nur die Alten und die Kinder blieben übrig.
 
Auch Giovanni machte sich 1961 auf nach Winnenden. Giovannis Brüder Mario und Leonardo kamen nach Waldenbuch und arbeiteten in Leinfelden Musberg. Dort erfuhren sie auch von dem Unfall. Kollegen von Giovanni wussten, dass er Brüder in Waldenbuch hatte. Man verständigte die Polizei, die sich dann nach Waldenbuch aufmachte. Erst spät abends erfuhren sie vom Tod des Bruders, denn sie hatten wie oft Überstunden gemacht. Nach dem ersten Schock gingen sie zur Italienischen Katholischen Mission in Stuttgart, dort hatte Giovanni immer den Gottesdienst besucht, in der Hoffnung auf Unterstützung bei den Kosten der Überführung nach Italien, welche dann schließlich die Firma übernahm.
  In Cariati war Giovannis Patensohn Demetrio am Spielen bei Verwandten, als jemand kam und sagte, den Großeltern ginge es nicht gut. Erst allmählich kam heraus, dass Giovanni gestorben war. Von Deutschland aus wurde bei der Stadtverwaltung in Cariati angerufen, dort entschied man, die Nachricht zuerst einem von Giovannis Geschwistern zu sagen, und die informierten dann die Eltern. Nun kam eine lange Zeit des Wartens. Sieben Tage und Nächte wusste keiner genau, was und wie passiert war, sieben Tagen klagte, rätselte und betete das ganze Städtchen, bis dann die Überreste des Verstorbenen beerdigt werden konnten. Giovanni war der erste Auswanderer aus Cariati der im Ausland bei der Arbeit ums Leben gekommen war, eine völlig neue Situation für alle.   Dass die Auswanderung nicht nur ein spannendes Abenteuer, sondern auch ein Opfer sein kann, das hatte der Tod von Giovanni Ciccopiedi aufs Schmerzlichste wieder bewusst gemacht. Sicher wurde in Deutschland gutes Geld verdient, aber der Preis dafür konnte sehr hoch sein. Die vielen, die damals aus Kalabrien nach Deutschland auswanderten, sind dem Land, das ihnen Arbeit gab, und den Firmen, die sie beschäftigten, sehr dankbar. Gleichzeitig freuen sich die ehemaligen „Gastarbeiter“, wenn ihre Arbeit und ihr Opfer als Beitrag zum Aufbau Deutschlands und zur Einigung Europas verstanden wird.  
 


Bei Mario Ciccopiedi (+ 2010) und seiner Familie in Bocchigliero Wir danken Frau Kurz von der Firma Nusser in Winnenden für die Übermittlung der Firmenaufnahmen.   Giovanni und Mario Ciccopiedi in Deutschland