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Migration und Seelsorge

Italienische Familien in Schule / Religionsunterricht / Kirchengemeinde
von Thomas Raiser

1. Die Herausforderung: Kirchengemeinde wird Weltkirche

Sonntag vormittags ein Gottesdienst: Einer der Ministranten ist aus Asien, zwei Mädchen sind schwarz, fünf haben weiße Hautfarbe, zwei davon kommen aus Italien. Ministranten/innen aus drei Erdteilen gleichzeitig ist keine Seltenheit mehr. Katholische Kirchengemeinden mit 10, 20, 25 % ausländischen Gemeindemitgliedern gehören in den größeren Städten zur Regel. Weltkirche ist die neue Wirklichkeit vor Ort.

1.1. Vom Gastarbeiter zum Europäern

Die Vielfalt von deutschen und ausländischen Christen in den Kirchengemeinden begann meist mit den Gastarbeitern, die vor allem für die Industrieregionen geholt wurden, zunächst nur die Männer, angeworben beispielsweise in den Dörfern Kalabriens, um in Deutschland zu arbeiten. Ganze Gruppen kamen oft aus demselben Dorf in Kalabrien in dieselbe Stadt Deutschlands. Gelebt wurde spartanisch, das Ersparte wanderte nach Hause zur Familie. Italienische Vereine und Clubs, Sozialberater sowie die "Italienischen Missionen" boten Kontakt und Betreuung. Die Ortsgemeinden sahen sich durch die Missionen von der Seelsorge für die Migranten entlastet. Für die Familien bedeutete die Trennung eine große Herausforderung: Viele Ehen hielten der Belastung durch die Trennung nicht stand. Aus der kurzen Zeit, die man in Deutschland arbeiten wollte, wurden viele Jahre. Immer mehr Familien kamen nach. Mit dem Aufwachsen der zweiten Generation bekam der Aufenthalt in der Fremde mehr Dauer, die Aussicht auf eine vollständige Rückkehr verschwand. Das Haus in Kalabrien wurde zum Urlaubsdomizil und zur Perspektive für den Ruhestand. Viele ältere Kalabresen vor allem der ersten Generation pendeln zwischen den Kindern/Enkeln in Deutschland und der Heimat im Süden hin und her. Doch die Migration geht weiter: Auch heute kommen zahlreiche junge italienische Paare, um in Deutschland Arbeit zu suchen, und mit ihnen beginnt der integrative Prozess von neuem. Dennoch ist die Zeit der Gastarbeiter vorbei. Kalabrien ist eine Region Europas mit Perspektiven und fordert Partnerschaft ein. Seine Bewohner sind Mitbürger im vereinten Europa, stolz auf ihre große Geschichte und ihre schöne Heimat. Die Migranten selbst sehen sich in einer neuen Rolle und beanspruchen diese auch vor Ort: In den demokratischen Gremien der Städte und Gemeinden, aber auch in den Gruppen und Gremien der Pfarreien.

1.2. Die Kirchengemeinden, ihre deutschen und ihre ausländischen Mitglieder

Wo sich ausländische Familien auf Dauer oder auf längere Zeit niederlassen, sehen sich katholische Pfarreien vor die Aufgabe gestellt, mit der neuen Situation praktisch und grundsätzlich umzugehen. Die ausländischen Gemeindemitglieder haben Anspruch auf Seelsorge und beanspruchen, ihre Eigenart in die Kirche vor Ort mit ein zubringen. Sie wehren sich gegen bloße Anpassung, wollen über die Folklore hinaus ernst genommen werden und zugleich in Dienst genommen werden für die Grunddienste der Gemeinde. Doch ein Zusammenwachsen von einheimischen und zugewanderten Gemeindemitgliedern fällt nicht immer leicht. Unterschiedliche Mentalität, unterschiedliche Vorerfahrungen und Lebenssituationen stellen beachtliche Hürden dar, die für ein Mehr an Gemeinsamkeit überwunden werden müssen. Voraussetzung ist, einander besser kennenzulernen.

 

2. Die Wurzeln: Familie, Schule, Kirche und Gemeinde in Kalabrien

2.1. Familie

Der wesentliche Lebensort (süd-)italienischer Kinder und Jugendlicher ist nach wie vor meist die Familie. Die Familie verkörpert die grundlegenden Werte der Erziehung. Sie ist zugleich angewiesen auf ein Umfeld, das diese Werte schätzt und fördert. Dabei kann die Familie eine Lebensgeschichte genauso fördern wie behindern. Das Rollenverständnis ist im ländlichen Raum nach wie vor traditionell ausgeprägt. Die bisher hohe Arbeitslosigkeit im Osten Kalabriens bringt allerdings eine Spannung in die Familie, die dann häufig zur Suche nach Arbeitsmöglichkeiten in Norditalien oder im Ausland führt.

2.2. Schule

Die Phase der außerfamiliären Erziehung und Bildung beginnt mit der Scuola Materna, die unserem Kindergarten entspricht, aber deutlich lernorientierter ausgeprägt ist. Im Alter von ca 5 - 6 Jahren folgt dann die Scuola elementare (Grundschule), die 5 Klassen umfasst und in der alle Kinder einheitliche Schulkleidung tragen. Mit der Scuola Media (6. - 8. Klasse) ist dann die allgemeine Schulpflicht erfüllt. Es folgt ein Wechsel auf ein Liceo (fachgebundenes Gymnasium), auf die Berufliche Schule (Scuola Professionale) oder direkt in eine Ausbildungsstelle. Auffällig ist, dass während der gesamten Schulzeit der Lernaspekt von Anfang an stark im Vordergrund steht, dass aber auch Projektunterricht ein starkes Gewicht besitzt. Bis zur Klasse 5 (Scuola Media) werden behinderte Kinder integrativ unterrichtet unter Beteiligung sonderpädagogisch ausgebildeter Lehrkräfte. Es gibt einen ausdrücklichen Religionsunterricht, der meist von speziellen Religionslehrern/innen oder Priestern erteilt wird.

2.3. Kirchliches Leben

Das kirchliche Leben ist überall noch stark ausgeprägt, wenn auch eine Erosion von Glauben und Kirchlichkeit nicht zu übersehen sind. Die kirchlichen Traditionen und die dörfliche und kleinstädtische Lebensweise sind in einem Dorf Kalabriens tatsächlich auch heute noch sehr verschieden im Vergleich zu einer Kirchengemeinde in der Region Stuttgart. Die Sozialkontrolle ist noch deutlich stärker ausgeprägt und reicht teilweise bis in die deutschen Wohnorte. Das Gemeindeverständnis ist einerseits noch sehr priesterzentriert, andererseits sind eine Vielzahl von Gemeindemitgliedern verantwortlich tätig in der Verwaltung und Gestaltung der Gemeinde oder in religiösen Bewegungen, die in Italien sehr stark verbreitet sind. Innerhalb des Familienverbunds gibt es oft Traditionen, die uns kaum mehr vertraut sind, so zum Beispiel das gemeinsame Beten des Rosenkranzes.

Auf Erstkommunion und Firmung hin gehen die Kinder bzw. Jugendlichen meist einen jahrelangen katechetischen Weg mit wöchentlichen Treffen und beachtlicher inhaltlicher Fülle. Eine Besonderheit sind die Bruderschaften, die sich bestimmten Aufgaben verschrieben haben (Karwochen-Gestaltung, soziale Aufgaben, Pflege einer Kirche usw.). Es gibt aber auch Familien, die eine starke antiklerikale Tradition haben: Sei es aus politischen Gründen, sei es aus persönlichen Enttäuschungen heraus, sei es aus dem Bedürfnis nach Freiräumen heraus angesichts einer allgegenwärtigen, immer noch mächtigen Kirche. Viele italienischen Familien haben in ihrer Verwandtschaft Mitglieder der Zeugen Jehovas, Adventisten oder Freikirchler. Solche Übertritte sind häufig eine Folge von familiären Zerwürfnissen, oder aber sie erzählen von einer großen Einsamkeit vor allem hier in Deutschland, in der sich Mitglieder anderer Glaubensgemeinschaften ihnen zugewandt haben. Die Freikirchen kommen dem Bedürfnis nach biblischem Wissen und emotionaler Religiosität entgegen.
Für viele Kalabresen, die nach Deutschland kommen, erscheint das Leben einer Kirchengemeinde in Deutschland ziemlich fremd und recht liberal. Dabei fällt auf, dass ein Kontakt zur Ortsgemeinde in ländlichen Gebieten Deutschlands in der Regel leichter zu knüpfen ist als im städtischen Milieu.

3. Lebensfeld Schule in Deutschland

3.1. Italienische Kinder und deutsche Schule

Während die Kindergartenzeit meist noch einigermaßen konfliktfrei verläuft, zeigt sich häufig in der Grundschule, dass hier ganz unterschiedliche Modelle von Erziehung aufeinanderstoßen. Die von Italien her gewohnte frühere Einschulung und die starke Lernorientierung des Kindergartens führen gelegentlich in Deutschland zu verfrühter Einschulung ohne ausreichende Sprachkenntnisse. In der Schule wird die Lebhaftigkeit italienischer Kinder schnell als Hyperaktivität gedeutet. Lehrer wie Eltern stehen dann vor der Herausforderung, dieses Kind für die deutsche Schule "schulgerecht" zu machen. Die Situation der Migration mit Umzug, neuer Sprache, psychischer Belastung der Familie, Druck durch Zwang zur Erwerbstätigkeit beider Eltern, teilweise kleinen Wohnungen, Fehlen der Großeltern in der Erziehung bringt eine zusätzliche Belastung von Kindern und Eltern mit sich. Insbesondere Umzüge im Laufe der Schulzeit belasten die Kinder erheblich. Viele Eltern überlegen deshalb, die Kinder bei den Großeltern in Italien zu lassen bzw. in einem Internat unterzubringen.

3.2. Italienische Eltern und deutsche Schule

Eltern ausländischer Schülerinnen und Schüler wird häufig Desinteresse an schulischen Vorgängen bzw. dem Bildungsfortschritt ihrer Kinder vorgeworfen. Dabei wird meist vermieden, genauer hinzuschauen, warum die Eltern die notwendigen Kontakte nicht wahrnehmen.
Viele Familien kommen nach Deutschland mit der Absicht, bald wieder in die Heimat zurückzukehren. Deshalb glauben viele Eltern, dass es sich gar nicht erst lohnt, sich zu öffnen für die neue Sprache und Kultur, zu der auch die Schule der Kinder gehört.
Häufig sind es sprachliche Probleme, die bei Elternabenden und Gesprächen den Kontakt blockieren. Weiterhin können auch Hemmungen eine Rolle spielen, weil die Eltern selbst ihre Bildung mehr durch das Leben als durch die Schule erfahren haben. In den Dörfern wurde oft auf die Arbeitskraft der Kinder für die Landwirtschaft mehr Wert gelegt als auf den Schulbesuch, so dass einige Eltern selbst nur wenige Jahre oder gar nicht eine Schule besuchten konnten.
Dann sind die wirtschaftlichen Bedingungen nicht immer einfach: Vermehrte Schichtarbeit, Notwendigkeit mehrerer Arbeitsstellen, um über die Runden zu kommen, keine Verwandten, die aushelfen könnten, erfahrenes Unverständnis durch die deutsche Schule. Schließlich die Angst vor dem Übergang in die - in Italien in dieser Form unbekannte - Förderschule.
Unkenntnis und Ängste auf Seiten der Eltern und der Schule führen dazu, dass oft ein Dialog nicht stattfindet, notwendige Entscheidungen und Entwicklungen können nicht eingeleitet und begleitet werden, und das Kind "fällt in den Brunnen". Manche Familien fliehen vor dieser Situation zurück nach Italien, werden aber aus wirtschaftlichen Gründen wieder zur Rückkehr nach Deutschland gezwungen, und das Karussell dreht sich von neuem.

4. Religionsunterricht

4.1. Schülerinnen und Schüler anderer kultureller Herkunft - eine Herausforderung auch im RU

Schätzungsweise 10 000 italienische Kinder und Jugendliche besuchen den katholischen Religionsunterricht in der Diözese Rottenburg Stuttgart. Diesen aufgeweckten Kindern begegnen natürlich auch die katholischen Religionslehrer - und zunehmend auch die evangelischen, sofern sie im konfessionell-kooperativen Religionsunterricht tätig sind. Ihre teilweise andere religiöse Mentalität, Unterschiede in der Erziehung und der meist süditalienische kulturelle Hintergrund bedeuten für Unterricht, Lehrer, Mitschüler und die Gemeinden eine Chance und eine Herausforderung zugleich. Nur allmählich wird auch in Lehrplänen und Schulbüchern sichtbar und spürbar, dass im Religionsunterricht unterschiedliche religiöse und kulturelle Traditionen aufeinandertreffen. Die Religionslehrer/innen, die sich darauf einstellen, profitieren, denn die ausländischen Schüler tragen u. U. zu einer größeren Vielfalt bei. Für die Beziehung speziell zu den italienischen Schülerinnen und Schülern im Religionsunterricht kann es hilfreich und bereichernd sein, mehr zu wissen über die Herkunft ihrer Familien, ihre religiösen und kulturellen Wurzeln.

Es geschieht häufig, dass ich ein italienisches Kind frage nach dem Vater Unser, es schaut mich fragend an, wenn ich aber sage: Padre Nostro, dann spult es das Gebet ohne Unterbrechung ab. Es leistet also nicht den Transfer zwischen italienischer Kirche und örtlicher Kirche. Diese Fremdheit bleibt weitgehend bestehen bis in die Sekundarstufe eins und wird erst teilweise durchbrochen bei den lebenskundlichen Themen ab Klasse 7 und 8. Die konfliktorientierten Themen des Religionsunterrichts stehen gelegentlich in Spannung zu dem auf klaren Rollen aufbauenden Familienleben. Andererseits bieten unterschiedliche familiäre Erfahrungen Stoff für interessante Gespräche zwischen deutschen und ausländischen Schülern. Durch die starke Berücksichtigung des Islam in Lehrplänen und Unterricht hat sich die Rolle muslimischer Schülerinnen und Schüler in der Schule stark verbessert. Sie lernen: Ich darf stolz sein auf meine Religion und ihre Traditionen. Von solcher Wertschätzung für ihre Sprache und kulturelle Eigenart im Religionsunterricht und in der Schule insgesamt können italienische christliche Kinder oft nur träumen. .

4.2. Italienische Kinder und Religionsunterricht

Die kreativ - gestaltenden Elemente im Religionsunterricht kommen den italienischen Kindern meist sehr entgegen, doch bei vielen Inhalten und Methoden gehen sie nur äußerlich mit, weil ihre Kirchenerfahrung - die sie häufig haben - anders aussieht: Andere Lieder, andere Bilder, vor allem aber andere Gebete - obwohl es dieselben sind, nur in einer anderen Sprache.

Exkurs: Warum Migration Sinn macht. Von der sozialen Fürsorge zu einer Theologie der Migration

Bedeutet es einen Defekt der Menschheit, wenn Menschen ihre Heimat verlassen, um anderswo auf dieser Welt zu leben, sei es aus wirtschaftlichen Gründen, sei es als Flüchtlinge, sei es als Touristen? Der italienische Bischof Giovanni Battista Scalabrini, der selbst Geschwister hatte, die ausgewandert waren, begann im 19. Jahrhundert mit einer systematischen Seelsorge für die Auswanderer. Darüber hinaus begründete er eine religiöse Deutung der weltweiten Wanderungsbewegungen: "L'emigrazione fa sì che la patria dell uomo diventi il mondo - die Emigration bewirkt, dass die Welt zur Heimat des Menschen wird"(1). In der Verbindung und Vermischung von Menschen unterschiedlicher Rassen, Kulturen und Völker sah er ein Zeichen der durch Christus geeinten Welt: Die Einheit aller Menschen guten Willens in Gott.(2) Es geht darum, eine übernationale Heimat zu errichten als "Kirche, die seit jeher unterwegs ist und die im endlosen Ereignis der Emigration eine unaufhörliche Fortsetzung des ersten Exodus sieht, der noch immer aus dem Sklaventum in die Freiheit führt. Der Traum, der uns bewegt, ist der einer Welt ohne Barrieren, ohne Grenzen, ohne Pass und ohne Schutzmauern. Eine neue Welt? Ja, genau. Das angebrochene Reich Gottes."(3) Eine solche Deutung der Migration mag interessant sein für Schule und Gesellschaft, in jedem Falle könnte sie für Kirchengemeinden und für den Religionsunterricht eine wichtige Perspektive und Leitlinie bieten, die über den üblichen Integrations-Pragmatismus hinausgeht.

5. Ansätze

5.1. Wie Schule, Religionsunterricht und Kirchengemeinde weiter kommen können

Etwas verändern lässt sich nur durch ernsthafte Beziehung.
Das beginnt damit, die ausländischen Kinder und Eltern wahrzunehmen als Partner, die sich in der Ausübung ihrer Erziehungsverantwortung vor großen und teilweise kaum leistbaren Herausforderungen gestellt sehen.
Schule, Lehrer und Kirchengemeinde kommen nicht darum herum, die Familien als Subjekte ihrer eigenen Integration zu achten und zu fördern, so wie es ihnen möglich ist. Natürlich haben Eltern nicht das Recht, ihren Kindern Schulerfolg und sozialen Aufstieg zu verbauen. Doch gegen die Eltern ist meist noch weniger möglich.
Ängsten vor Integration und Entfremdung kann nur dadurch begegnet werden, dass Schule und Kirchengemeinde zum Ausdruck bringen: Eure kulturellen Wurzeln, eure Sprache und Mentalität sind wertvoll und liebenswert, und wir wollen versuchen, sie zu verstehen und zu schätzen. Wer sich derart angenommen fühlt, der kann sich öffnen für deutsche Sprache, Kultur und Kirche.


5.2. Was die Kirchengemeinden tun können

In ihrem Buch "Interkulturelles Lernen in der Gemeinde" beschreibt Monika Scheidler eine Doppelstrategie: "Einerseits sollen interkulturelle Begegnungs- und Lernräume eingerichtet und gestaltet werden, in denen Einheimische und Zugewanderte einander schätzen lernen und auf der Basis des gemeinsamen Glaubens mit kulturellen und anderen Differenzen umgehen lernen können. Andererseits werden sowohl die zugewanderten als auch die alteingesessenen Christen noch für längere Zeit soziale Räume brauchen, in denen sie unter sich sein und ihre je eigene soziale, kulturelle und religiöse Identität ausbilden können."(4) Monika Scheidler sieht vor allem auf der Seite der einheimischen Ortsgemeinden einen Nachholbedarf. Eine wechselseitige Akkulturation kann in und durch Kirchengemeinden nur stattfinden, "wenn die einheimische Mehrheit bereit und in der Lage ist, sich konsequent auf Begegnungen mit Migranten und auf interkulturelle Lernprozesse einzulassen, bei denen sich nicht nur die Minderheit, sondern auch die Mehrheit verändert."(5) Wenn die Beziehung zu den ausländischen Gemeindemitgliedern über Pizzabacken und Folklore hinausgehen soll, ist es unumgänglich, dass sich die Verantwortlichen und Mitglieder der Gemeinde auf einen Lernweg begeben. Sie brauchen mehr Kenntnis und Erfahrung im Umgang mit ihren Mitchristen aus einem anderen kulturellen Zusammenhang. Sie müssen Erfahrungen machen mit der anderen Mentalität und sich von Rückschlägen nicht abhalten lassen. Dazu gehört auch, dass einige versuchen, die entsprechende Sprache zu verstehen und zu lernen und die religiösen Eigenheiten zu kennen. Die Gemeinde muss die äußeren Möglichkeiten schaffen, dass religiöse und gemeinschaftliche Veranstaltungen ihrer ausländischen Mitglieder problemlos durchführbar sind. Und sie kann zunehmend Berührungspunkte schaffen, wo gemeinsames Glauben und Leben erfahrbar wird.

Einige Hinweise zeigen, worauf es dabei ankommt.

  • Überforderungen vermeiden - weder die ausländischen noch die einheimischen Christen sind zu überfordern. Ausländische Gemeindemitglieder bestimmen selbst den Grad ihrer Integration in die Gemeinde. Es ist ihre eigene Entscheidung, inwieweit sie z.B. die Muttersprache in Gottesdienst und Gebet bevorzugen. Nach Nationaliäten ausgerichtete Familiengruppen erschweren zwar die Integration im Alltag, fördern aber das Vertrauen und das Selbstbewusstsein und verhindern die Vereinsamung.
  • Die Wurzeln stärken - Verständnis wecken Wichtig ist, einander zu zeigen: Die Wurzeln, aus denen du kommst, sind gut. Sie haben deine Person und deine kulturelle Identität geprägt und haben dazu beigetragen, dass du ein Mensch bist, den ich besonders wertschätze. Auch wenn das Land deiner Herkunft dir im Moment keine Arbeit oder keine Heimat zur Verfügung stellen kann, ist es wert, geliebt zu werden.
  • Partizipation: Es soll angestrebt werden, dass die Gemeindemitglieder ausländischer kultureller Herkunft möglichst in allen Diensten und Gremien entsprechend ihrem zahlenmäßigen Anteil an der Gemeinde vertreten sind.
  • Die gegenseitige Angst vor dem Verlust der kulturellen Identität abbauen. Die Vorbehalte gegenüber der jeweils anderen Kultur sind oft verbunden mit der Angst vor der Auflösung der familiären Bindungen und Regeln. Entsprechende Vorbehalte empfinden auch die einheimischen Gemeindemitglieder gegenüber Fremden. Diesen unterschwelligen gegenseitigen Befürchtungen kann nur begegnet werden durch gemeinschaftliche und persönliche Wertschätzung.
  • Zukunftsmodell: Die Gemeinde mit ihren Christen vielfältiger Herkunft kann ein Zeichen werden, wie Menschen unterschiedlicher kultureller Prägung versöhnt miteinander leben können.

Gemeinden anderer Muttersprache

Im Bereich der Gemeindestruktur entwickelte die Diözese Rottenburg Stuttgart folgenden Weg zu einem neuen Miteinander: Gibt es in einer Seelsorgeeinheit eine relativ große Anzahl von Menschen gleicher nationaler Herkunft, so sollen diese eine rechtlich eigenständige "Gemeinde anderer Muttersprache" bilden. Dazu wählen sie ein Vertretungsgremium, aus dem wiederum Vertreter in den gemeinsamen Ausschuss der Seelsorgeeinheit entsandt werden. Auch wenn dieser Weg vielfach kritisch gesehen wird: Er stellt doch sicher, dass die entsprechende Gruppe in aller Freiheit entscheiden darf, wie der Weg der Integration aussieht und wie sie ihre religiös-kulturelle Eigenart bewahren bzw. einbringen kann. Gleichzeitig ist angestrebt, dass Gemeinsamkeit über die verschiedenen nationalen Gruppen hinweg wächst.

5.3. Was die Schule tun kann

Kinder, Eltern und Lehrer sind die Hauptbeteiligten am Erziehungsauftrag der Schule. Die Hindernisse, die ausländische Eltern von einer Beziehung zu Lehrern und Schule abhalten, werden von den Schulen häufig moralisiert: Die Eltern wollen nicht, sind zu bequem, unfähig usw. Dabei hält diese Vermutung kaum einer Nachprüfung stand. Durch Misstrauen schafft die Schule für die Familien Probleme, statt sie ihnen hilft, sie zu lösen. Wichtig ist, dass die Schule frühzeitig den Kontakt zu den Migrantenfamilien sucht. Dazu sind neue Wege notwendig. Das Tabu, dass nur im Sonderschulbereich Hausbesuche gemacht werden, ist überholt: Gerade ausländische Familien fühlen sich in der eigenen Umgebung sicherer für ein Gespräch als im fremden Raum der Schule. Zugleich wird dabei erfahrbar, dass meist eine hohe Kultur der Gastfreundschaft die Familien prägt. Die Eltern werden zu achtbaren Partnern in der Erziehung. Nur mit hohem Respekt vor dem guten Willen der Eltern wird es gelingen, die Familie in die gemeinsame Verantwortung einzubinden. Ein Handicap der grundsätzlichen Art: Die Muttersprache der ausländischen Kinder wird von der Schule oft eher als Störfaktor empfunden. Es braucht Modelle und Strukturen, welche die Kenntnis einer Muttersprache zum schulischen Vorteil werden lassen.

5.4. Was die Religionslehrer tun können

Für die Religionslehrer/innen könnte das bedeuten, sich zunächst für die Schülerinnen und Schüler persönlich zu interessieren: für ihre Herkunft, ihre familiäre Situation, ihre Eigenheiten. Das gilt nicht nur für ausländische Schüler/innen. Weiter können sie den Lehrplan befragen: Wie wichtig ist die Germanenmission für eine Klasse 7, in der 80% Ausländer sind? Welche Aspekte der Kirchengeschichte wären für italienische, spanische, kroatische, afrikanische .... Schüler/innen bedeutsam? Welche "großen Christen" stammen aus diesem Land? Außerdem kann jede/r Zeichen setzen. Man muss nicht gleich die entsprechende Sprache beherrschen. Die Kinder verstehen auch kleine Gesten, mit denen eine Wertschätzung ihrer Herkunft und Familie erfolgt. Mit der Begründung "Gott versteht alle Sprachen" habe ich grundsätzlich bei Abfragen und Arbeiten die italienische oder kroatische Version von Gebeten oder den Geboten akzeptiert. Auch muttersprachliche Lieder durchbrechen diese Mentalitätsmauer. Durch solche Zeichen kommt zum Ausdruck: Deine kulturellen Wurzeln, deine Sprache, Deine religiöse Tradition und Mentaliät sind wichtig und wertvoll. Auch wenn du durch deine Sprache oder durch die familiären Umstände in deiner schulischen Entwicklung gehemmt bist: Ich erkenne dich als Kind Gottes, das mit ganz eigenen und wichtigen Gaben ausgestattet ist. (Nicht immer reagieren die ausländischen Kinder bzw. Jugendlichen auf Elemente in ihrer Muttersprache positiv. Gründe können sein, dass sie ihre Muttersprache nur unvollkommen beherrschen, oder nur im Dialekt sprechen, oder sie wollen nicht als Minderheit in der Klasse hervorgehoben werden, was ihre Bemühung um Integration erschweren könnte usw. ) Soweit möglich, ist ein Kontakt zu den Eltern hilfreich, der auch von außerschulischen Erfahrungen bereichert ist und möglichst angstfrei sein sollte. Feste der muttersprachlichen Gemeinden bieten dazu eine gute Gelegenheit. Religionslehrer haben u.a. manchmal den Vorteil, dass sie nicht von allen schulischen Zwängen belastet sind und deshalb einen unbefangeneren Umgang pflegen können.

6. Integration muss keine Drohung sein

Viele Eltern ausländischer Kinder haben die Befürchtung: Die deutsche Schule, Sprache und Kultur entfremdet uns unsere Kinder. Damit gefährdet sie unser Selbstverständnis als Familie. Das Zusammenleben innerhalb vieler ausländischer Familien unterscheidet sich in vieler Hinsicht von den Rollenbildern und Aufgabenverteilungen, die im deutschen kulturellen Umfeld gelernt und gelehrt werden. Eine Veränderung wird als Bedrohung des familiären Zusammenhalts erlebt. Autorität der Eltern und Zukunft der Kinder erscheint gefährdet. Die Konsequenz ist, dass die ausländischen Jugendlichen in zwei Werte-Welten leben (müssen): Das, was ich von zu Hause kenne, gilt in der Schule nicht alles, und was ich in der Schule erlebe und lerne, erzähle ich besser nicht den Eltern. Worte wie "Die sollen sich gefälligst anpassen, wenn sie hier leben wollen" erzeugen Angst vor einer Integration, die vor allem Anpassung und Gleichmachung bedeutet. Allein die Wohnumgebung erzeugt häufig einen immensen Anpassungsdruck "Wir dürfen hier nicht so laut sein". Immerhin sind Kirchengemeinden, ihre Mitglieder und Verantwortlichen zunehmend bereit, auf die Eigenheiten ausländischer Gemeindemitglieder Rücksicht zu nehmen und Kompromisse zu erarbeiten, die zwischen den unterschiedlichen Mentalitäten vermitteln.

7. Früchte: Euer Lohn wird groß sein

Schüler und Eltern, die spüren, dass sie uns wichtig sind, werden eher bereit sein, sich auf Neues einzulassen. Weil das Selbstwertempfinden der Kinder/Jugendlichen gestärkt wird und die gute Absicht der Eltern anerkannt wird, können Schülerinnen und Schüler möglicherweise darauf verzichten, um jeden Preis Aufmerksamkeit zu suchen durch Gewalt und Störung. Es findet Integration statt: Eine Integration der deutschen Kultur in die mitgebrachte Kultur ausländischer Familien. Das macht angstfreien bereichernden Umgang möglich. Das macht bereit, Sprache zu lernen, Gemeinsames zu suchen und Neues zu riskieren. Das lässt ahnen, was ein vereintes Europa sein kann: Ein Raum, in dem wir uns einander beschenken. Und es lässt spüren, was Pfingsten als Beginn einer weltweiten Kirche bedeuten wird: Versöhnte Verschiedenheit.

Ein Lese- und Reisebuch als Brücke

Wie kommen wir unseren italienischen Gemeindemitgliedern bzw. Schülern näher? Wie können wir Ihnen das Gefühl geben: Ihr gehört zu uns. Wir stehen zu Euch. Wir gehören zueinander?
Das war für uns die Frage als Seelsorgeeinheit, in der von ca 14 000 katholischen Christen etwa 2500 italienische Wurzeln haben. Das war die Frage für mich als Religionslehrer in Klassen mit einem hohen Anteil an ausländischen katholischen Schülerinnen und Schülern. Ein Lese- und Reisebuch, an dem viele kalabresische Familien mitgearbeitet haben, brachte eine Annäherung an die kulturellen Wurzeln der zahlreichen Kinder, Jugendlichen und Familien, die aus dem östlichen Kalabrien stammen und in großer Zahl in der Diözese Rottenburg-Stuttgart leben. Eine deutsch-italienische Projektgruppe in Fellbach sammelte alles, was über die Heimatorte im östlichen Kalabrien zu finden und zu erfahren ist. Herausgegeben von der Kath. Kirchengemeinde St. Johannes Fellbach ("edition semplicità" heißt der eigens dafür gegründete Verlag) beschreibt das Buch auf 256 Seiten die Geschichte, die Gegenwart und die Perspektiven Ostkalabriens, genauer: der Sila Greca. Denn aus der "griechischen Sila", einem Landstrich am ionischen Meer, der zu den ärmsten Italiens gehört, stammt ein ordentlicher Teil der in Württemberg lebenden Italiener. Cariati, Mirto-Crosia, Mandatoriccio, Rossano, Scala Coeli, Mandatoriccio, Terravecchia, Caloveto, Paludi, Longobucco, Bocchigliero, Pietrapaola, Cropalati, Campana, Calopezzati, San Morello heißen die größeren und kleineren Heimatorte. Am Bekanntesten ist das byzanthinisch geprägte Rossano, wo sich im Diözesanmuseum der "Codex Purpureus Rossanensis" aus dem 6. Jht. bestaunen lässt.
In seinem Grußwort begrüßt der Erzbischof Andrea Cassone von Rossano-Cariati das Erscheinen des Buches, auch weil ihm bewusst ist, das etwa die Hälfte seiner Gläubigen seiner Diözese ständig in Deutschland lebt, sich aber zugleich stark verbunden mit der kalabresischen Heimat fühlt. Die Chance liegt darin, dass Kinder, Jugendliche und ihre Eltern erfahren: In der einen Kirche ist Raum für verschiedene kulturelle Ausprägungen christlicher Identität, die nicht zueinander im Widerspruch bleiben müssen. So ist das Buch eine von vielen Möglichkeiten, sich auf die Suche zu machen nach den kulturellen Wurzeln der italienischen Kinder und Familien, die uns im RU begegnen. (6)

(1) Giovanni Battista Scalabrini Beato, hrg. von den Missionari di San Carlo - Scalabriniani sowie den Missionarie di San Carlo Borromeo - Scalabriniane und den Missionarie Secolari Scalabriniane. Roma 1998

(2) GUGLIELMI, Silvano; Ein neuer Exodus. Der selige Johann Baptist Scalabrini. Basel 1997 S.7:
"Während die Völker untergehen, wieder auferstehen und sich erneuern; während die Rassen sich vermischen; sich ausbreiten und sich verbinden; mitten im Lärm unserer Maschinen; über all diese fieberhafte Betriebsamkeit, all diese gigantischen Werke hinaus - und nicht ohne all dies - reift in der Welt ein viel größeres, viel edleres, viel erhabeneres Werk heran: die Einheit aller Menschen guten Willens in Gott durch Jesus Christus."(G. B. Scalabrini)

(3) GUGLIELMI, Silvano; Ein neuer Exodus, Vorwort des Autors S. 11f

(4) SCHEIDLER, Monika, Interkulturelles Lernen in der Gemeinde, Ostfildern 2002, S. 165

(5) SCHEIDLER, S. 181

(6) RAISER, Thomas, Sila Greca Sila Ionica - ein Reisehandbuch; Edition Semplicità, Fellbach 2002

© Thomas Raiser

 

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Buchtip

Monika Scheidler
Interkulturelles Lernen in der Gemeinde
zur Besprechung

Artikel

Thomas Raiser
Padre Pio klopft an deutsche Kirchentüren

Unsere Seelsorgeeinheiten - Heimat für alle?

Italienische Kirchenlieder für Kinder und Erwachsene

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